A. L. Hinton u.a. (Hrsg.): Genocide

Title
Genocide. Truth, Memory, and Representation


Editor(s)
Hinton, Alexander Laban; O’Neill, Kevin Lewis
Published
Extent
341 S.
Price
€ 19,99 €
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Anika Oettler, Philipps-Universität Marburg

Alexander Laban Hinton (Rutgers University) und Kevin Lewis O'Neill (Indiana University Bloomington) haben mit „Genocide. Truth, Memory, and Representation“ einen Band vorgelegt, der eine Reihe von sozial- und kulturanthropologischen Perspektiven auf die Frage des gesellschaftlichen Umgangs mit Massengewalt versammelt. Ausgehend von den frühen Debatten um die Konzeption des Straftatbestandes Genozid verweisen die Herausgeber in ihrem einleitenden Beitrag auf die Problematik der Inklusion und Exklusion von Opfergruppen und die Frage der „moral gradation of atrocity“ (S.3). Im Mittelpunkt des Bandes stehen weniger die Praktiken und Dynamiken des Völkermordes als vielmehr die sozialen Konstruktionsprozesse, die vergangener oder gegenwärtiger Massengewalt Sinn verleihen. Diese werden als vielstimmige und widerstreitende Aushandlungsprozesse gefasst: „[…] this book addresses acts of discursive privileging and moments of silencing that complicate and constitute issues of truth and falsity“ (S. 3).

Die neun Beiträge des Bandes fragen nach individuellen und kollektiven Erinnerungen an Massengewalt und, genauer noch, nach den Differenzen zwischen der „monolithischen” Wahrheit postgenozidaler Eliten und den multiplen Wahrheiten von Überlebenden, Täter(inne)n, Zeug(inn)en, Aktivist(inn)en, Journalist(inn)en und Wissenschaftler(inn)en. Die Herausgeber gehen davon aus, dass die Kultur- und Sozialanthropologie aufgrund der ihr eigenen – erfahrungsnahen – qualitativen Forschungsmethoden besonders gut in der Lage ist, die kulturellen Praktiken in postgenozidalen Konstellationen zu beschreiben. Der Band kreist um die begriffliche Trias „Wahrheit, Erinnerung, Repräsentation“ und ist in drei Sektionen unterteilt, die jeweils einen der drei Begriffe hervorheben.

Eine Lektüre, die dem von den Herausgebern gespannten Faden folgt, beginnt mit den Reflexionen, die Victoria Sanford vor dem Hintergrund ihrer langjährigen Feldforschung mit überlebenden Maya in Guatemala niedergeschrieben hat. Im Anschluss an Levi befasst sich Sanford zunächst mit der „Wahrheit“ von Zeugenaussagen und der „grauen Zone“, in der die Grenzen zwischen Überlebenden, Opfern und Tätern verschwimmen und die Schranken des Sagbaren und der Empathie deutlich werden. Exemplarisch wird eine längere Passage aus einem Interview mit dem indigenen Soldaten Gaspar (Täter, Opfer und Überlebender zugleich) wiedergegeben und dazu bemerkt: „It is pregnant, full of significance, asks more questions than it answers, sums up in itself the entire theme of the grey zone and leaves one dangling.“ (S. 36). Die Aussagen Überlebender sind, so Sanford, nicht als getreue Repräsentation des Erlittenen zu interpretieren, sondern vielmehr als lebendige Erfahrung, die politische Räume öffnet und die Konturen der offiziellen Erinnerung hinterfragt. Damit benennt Sanford zugleich ein zentrales Thema, das auch in anderen Beiträgen des Bandes im Mittelpunkt steht, so etwa in dem Beitrag von Jennie E. Burnet, die die Problematik hegemonialer Erinnerung in Ruanda und die Marginalisierung der „Wahrheiten“ von Hutu-Witwen und Angehörigen ethnisch gemischter Familien beschreibt. Auch Elizabeth F. Dexler thematisiert die Grauzonen der Erinnerung, indem sie nachweist, dass alle drei Transitional Justice Institutionen in Osttimor einen zentralen Kern der Gewalterfahrung – Korruption, Kollaboration und Verrat – ausgeklammert haben.

Eine Lektüre, die der Einladung der Herausgeber folgt, quer zu lesen, beginnt aus einer deutschen Sicht wahrscheinlich mit dem Beitrag von Uli Linke („The Limits of Empathy: Emotional Anesthesia and the Museum of Corpses in Post-Holocaust Germany“). Mit ihrer Entscheidung für diesen Beitrag verlassen die Herausgeber die üblichen Pfade der Debatten um Schweigen, Erinnerung und die Grenzen der Repräsentation, wie sie etwa von Saul Friedländer 1992 gebündelt wurden. Im Mittelpunkt des Beitrages von Uli Linke stehen die von Gunther von Hagens konservierten Leichen und Leichenteile, die seit 1997 von einem Millionenpublikum gesehen wurden. Für die Autorin steht die Ausstellung „Körperwelten“ exemplarisch für „cultural techniques that contribute to the perpetual unmaking of empathy in present-day Germany“ (S. 148). Ferner wird auf eine „multiplicity of themes associated with the atrocities of the Nazi regime“ (S. 150) verwiesen und insbesondere kritisiert, dass der postmortale Vorgang des Recyclings von Leichenteilen in den deutschen öffentlichen Debatten kaum eine Rolle gespielt habe (S. 179). Während Linke eine facettenreiche Kritik an der Ausstellung formuliert (die gleichwohl auf die 18 Abbildungen von Ausstellungsexponaten hätte verzichten können), entwickelt der Beitrag insgesamt eher eine steile These als einen stringenten Nachweis. So bleibt die Frage der Einbettung in den Kontext der deutschen Post-Holocaust-Gesellschaft letztlich offen. Erklärt sich die Faszination der Ausstellung tatsächlich, wie Antonios C.G.M. Robben im Nachwort unterstreicht, mit der Sublimierung des Genozids“ (S. 324)? Ob dies so ist, oder ob dahinter die Abwehr von Vergänglichkeit und Verwesung oder auch nur die kulturindustriell verstärkte morbide Neugier und pornographische Lust steht, könnte wohl nur eine psychologische Untersuchung klären.

Der „provocative and brave essay“ (Robben, S. 322) von Uli Linke ist auch auf einer anderen Ebene interessant, weil er unweigerlich die Frage aufwirft, ob und inwieweit die wissenschaftliche Analyse das Spektrum der diskursiven Kämpfe um Wahrheit/Erinnerung/Repräsentation zu repräsentieren hat. Die wissenschaftliche Aufarbeitung von sozialen Konstruktionsprozessen ist immer auch selbst Teil dieser Konstruktionsprozesse, die einige Wahrheiten produziert und verfestigt und andere ausschließt. Die diskursive Inklusion und Exklusion ist also sowohl Gegenstand der einzelnen Aufsätze als auch eine unumgängliche Folge der Zusammenstellung und Auswahl der Beiträge. Dass der Band dazu anregt, über diese Prozesse aus verschiedenen Perspektiven nachzudenken, ist sein wesentliches Verdienst.

Der Band zeichnet sich dadurch aus, dass er sowohl anerkannte und bekannte als auch umstrittene und wenig bekannte Fälle behandelt. Der Bogen wird zwischen Guatemala, Sudan, Ruanda, Bali, Deutschland, Indonesien/Ost-Timor, Nigeria und Jugoslawien gespannt. Leider wird in einigen Beiträgen der Zusammenhang zum Genoziddiskurs nicht deutlich. Dies gilt erstens für Leslie Dwyer, die danach fragt, warum die zwischen 1965 und 1966 in Bali ausgeübte Massengewalt im balinesischen Alltagsleben nicht thematisiert wird. Silence bedeutet, so Dwyer, nicht nur Schweigen, sondern in der Stille liegt eine Form der agency, die für spezifische politische und soziale Kontexte angemessen sein kann. Zweitens erscheint das „G-Wort“ in dem Untertitel des Beitrags von Conerly Casey fehlplatziert. Er befasst sich mit einer Gewaltwelle, die sich 2004 im nordnigerianischen Kano ereignete, und untersucht, wie nationale und globale Medien zu einer Polarisierung von Religion und zur Entstehung einer affective citizenship (s. 248) bei muslimischen Jugendgangmitgliedern (`yan daba) beigetragen haben. Auch der sehr informative Beitrag von Sharon E. Hutchinson, der die Neutralität der internationalen Menschenrechtsbeobachtung im Sudan hinterfragt, enthält keine Bezüge zur diskursiven (De-)Konstruktion genozidaler Gewalt. Vor diesem Hintergrund hätten die Herausgeber vielleicht auf den Genozidbegriff im Titel ihres Bandes verzichten können.

Insgesamt handelt es sich aber um eine gelungene Zusammenstellung von Arbeiten, die sowohl lokale Erinnerungsprozesse (etwa Debra H. Rodman zu San Pedro Pinula im östlichen Guatemala) als auch die nationale oder globale Verschiebung von Interpretationsrahmen (etwa Pamela Ballanger zur Frage der „ethnischen Säuberungen“) skizzieren. Hinton und O’Neill haben mit ihrem Band eine Textauswahl vorgelegt, die sowohl für Einsteiger(innen) als auch für „Expert(inn)en“ neue Einsichten bietet, und die vor allem die Reflexion über den methodischen Zugang zum komplexen Feld der Wahrheit/Erinnerung/Repräsentation fördert.

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24.06.2011
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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